Band 2: Moorwelt – Leseprobe

Prolog

In sanften Bögen wand sich der Fluss durch das Grasland. Er floss ruhig und fast lautlos dahin, seine glatte Oberfläche kräuselte sich nur, wenn eine Rotfeder oder ein Kaulbarsch durch das Wasser zog. Hier gab es kein Gefälle, das seinen Strom beschleunigt hätte. Keine Felsen durchbrachen den endlosen Spiegel, keine Stromschnellen ließen seine Wasser schäumen. Die fruchtbare Erde, durch die das Flussbett schnitt, hatte sein Wasser braun getrübt. Selbst an den Ufern war der Grund kaum zu erahnen.

Es war der achte Mond. Der Sommer neigte sich seinem Ende und wich dem Herbst. Sauerampfer und Klatschmohn waren genau wie Schafgarbe, Giersch und Hahnenfuß verblüht und hatten der Erinnerung Platz gemacht. Dann hatten sie ihre Samen mit Hilfe des Winds über die Ebene verteilt.

Das allgegenwärtige Gras nahm vom Fluss kaum Notiz. Zumindest ließ es sich von ihm weder beeindrucken noch in seinem üppigen Wuchs stören. Bis über die Kanten der unterspülten, steilen Uferböschung wuchs es erst aufrecht, dann hängend, dann submers. Aus den sattgrünen Süßgräsern der Großen Ebene wurde an den Flussufern sandgelbes Schilf. Buchen und Birken säumten in zufällig scheinenden Gruppen den Fluss und spendeten Schatteninseln auf dem schutzlosen, flachen Land.

Obwohl der Blick hier frei in jede Richtung wandern konnte und keine Erhebung, kein Berg ihn störte, entzog sich der Fluss den Blicken. So tief lag sein Bett, dass eine einzelne Kurve reichte, um den weiteren Lauf zu verbergen.

So wahrte er das Geheimnis, woher er kam und wo er endete, genau wie das Grasland, das ihn umgab. Mochte diese Bühne auch unspektakulär scheinen, sie war es nicht. Im Gegenteil. Sie machte sich bereit für ein Schauspiel auf Leben und Tod.

Kapitel 1: Der Lauf der Welt

»Halt!«

Weit hörbar ertönte die Stimme von Calamus. Der Anführer der Grasleute hielt mit erhobenem Stock an der Spitze des Zugs, der hinter ihm zum Stehen gekommen war, und wartete. Ein Raunen ging durch die Reihen. Direkt hinter Calamus waren die kleinsten Grasleute aufgereiht, zum Ende hin wurden sie größer. In ihrer Mitte ihr größter Schatz: hintereinander die fünf Wagen, die von ihren zehn stärksten Männern gezogen wurden und auf denen unter Planen aus Grasfasern ihre Vorräte, Ausrüstung, Medizin und Waffen verstaut waren. Über ihnen ragten hoch wie Bäume die Halme des weit verbreiteten Lieschgrases auf.

Nichts rührte sich, alle warteten und hielten Disziplin. Da begannen die Spitzen der Halme vor ihnen zu zittern. Zwischen ihnen segelte Melica, eine der Grünen Schatten, mit ihrem Flugnetz hindurch und landete elegant einige Schritte vor Calamus.

»Was gibt es, Melica? Warum machen wir Halt?«

Die Frau wies hinter sich. »Wir sind da. Nur noch ein paar Schritte in diese Richtung, dann sind wir am Fluss. Das Ufer fällt steil ab und ist so dicht bewachsen, dass es den Blicken verborgen ist. Wir müssen aufpassen, dass wir nicht hineinstürzen.«

Calamus wandte sich zu den Dorfbewohnern um. »Ihr hört, was Melica sagt. Es dämmert bereits. Setzt eure Schritte vorsichtig. Sobald wir den Fluss erreicht haben, schlagen wir unser Nachtlager auf.«

Damit setzte sich der Zug wieder in Bewegung.


Zwei volle Tage waren vergangen, seit sie ihr Dorf für immer verlassen hatten. Am Ende des ersten Tags hatten Sie nach der Anweisung von Avenella, Meisterin des Kampfes, ihr Nachtlager aufgeschlagen. Die Wagen bildeten ein Fünfeck, in dessen Zentrum ein Feuer entfacht wurde, dass Wärme und Schutz vor Tieren bot. Darum verteilt schliefen, in Decken aus Grasfasern gehüllt, in konzentrischen Kreisen die Grasleute. Sie spendeten sich gegenseitig Wärme und Trost. Um die Wagenburg boten die mit Feuerstein bewehrten, langen Speere weiteren Schutz. Die Grünen Schatten hatten sie schräg in den weichen Boden gerammt, so dass sich ihre Spitzen wehrhaft möglichen Angreifern entgegenstreckten.

Als Jüngste der Gemeinschaft schliefen Mibora und Cypera zusammen mit den Ältesten und Schwächsten direkt am Feuer, dem sichersten und wärmsten Platz des Nachtlagers. Was Mibora betraf, konnte allerdings von Schlafen keine Rede sein. Sie war so aufgeregt, dass sie kein Auge zu tat. Noch nie zuvor war sie so weit von ihrem Zuhause fort gewesen. Ihre Reisen hatten sich bisher stets auf Tagestouren beschränkt. Das Grasmädchen lauschte den Geräuschen der Nacht und dem Schnarchen der anderen, während sich die Schwesternschaft der Grünen Schatten mit der Nachtwache abwechselte.

Am nächsten Morgen – die letzten Augenblicke der Nacht hatte sie tatsächlich noch etwas Schlaf gefunden – wachte Mibora mit schmerzenden Gliedern auf. Der Boden war doch härter als gedacht und das Nachtlager im Freien ungewohnt für sie. Sie versuchte, sich an den Grünen Schatten und ihrer Schwester Cypera ein Beispiel zu nehmen und ahmte deren ausgeklügelte Dehn- und Streckübungen nach. Dann ging der Marsch weiter.


»Denkst du, was ich denke, Cyp?«

Mibora und Cypera hatten die Halme vor sich auseinandergebogen und betrachteten den endlos breit erscheinenden Fluss, der vor ihnen lag. Es war schon fast dunkel geworden, das andere Ufer konnten sie nur erahnen. Ihr Blick folgte einem Buchenblatt, das langsam, aber stetig mit der Strömung glitt und schließlich aus ihrem Blickfeld trieb.

Cypera nickte. »Könnten wir nur auf dem Fluss fahren, mit einem Floß oder Kahn…«

»Oder einfach über das Wasser laufen…« Mibora zwinkerte ihrer großen Schwester verschwörerisch zu. Bisher hatten sie niemand etwas von ihrer verborgenen Fähigkeit erzählt.

Cypera griff nachdenklich nach einem der Beutel an ihrem aus Queckentrieben geflochtenen Gürtel: »Das wäre so viel einfacher und schneller …«

»Sag mal, Cyp … jetzt, wo wir – du - eine neue Gabe entdeckt haben, die keine unserer Schwestern kennt … müssten wir sie da nicht mit ihnen teilen? Wäre das nicht unsere Pflicht als Grüne Schatten?«

»Nicht unbedingt. Ist dir aufgefallen, dass keine andere so viele Gabenbeutel an ihrem Gürtel trägt wie Carex, die Hüterin? Sie braucht als Einzige von uns zwei Gürtel, weil einer einfach nicht reicht. Würde sie jede ihrer Gaben mit der Schwesternschaft teilen, trügen wir alle so viele Beutel wie sie. Tatsächlich ist es so, dass jeder Schatten selbst entscheidet, welche seiner Gaben er teilt und wem er sie beibringt. Hauptsache, sie dringen nicht nach außen, sondern bleiben den Mitgliedern unseres Bundes vorbehalten. Carex` viele Beutel beweisen nur, wie viele Schwestern sie für vertrauenswürdig und lernfähig genug halten, um ihre Gaben mit ihr zu teilen. Was wiederum beweist, warum sie die Hüterin ist.«

»Also behalten wir unser Geheimnis für uns?«

»Ich zumindest werde das tun, bis die richtige Gelegenheit kommt. Was du damit tust, ist deine Sache. Als ich mich entschieden habe, die Gabe mit dir zu teilen, war klar, dass ich deine Entscheidung dazu respektieren werde. So will es der Codex.«

»Danke, Cyp. Für dein Vertrauen. Ich hoffe, dass ich mich dafür revanchieren kann. Und dass ich selbst bald mehr vom Codex lerne.«

»Das wirst du. Das liegt im ureigensten Interesse der Schatten. Warte ab. Im Moment sind alle sehr beschäftigt, aber deine Ausbildung wird sicher bald wieder an Fahrt aufnehmen.«

Mibora blickte sie an. »Wie alt warst du, als du gelernt hast, über das Wasser zu laufen?«

»Zwölf.«

»Zwölf Saaten …« Mibora lächelte. »Ich denke nicht, dass je ein Grüner Schatten so jung seine erste Gabe entdeckt hat. Du hältst ja doch einen Rekord – und diesen werde ich nicht brechen!«

Cypera lächelte zurück und strubbelte ihr durchs Haar. »Zumindest wird es knapp.« Sie blickte auf den Fluss: »Ganz egal, wie wir uns über das Wasser bewegen würden, mit Kahn, Floß oder ohne, wir würden gegen den Strom reisen. Das ist beschwerlicher als der Landweg.«

Die Mädchen spürten, wie sich zwei Hände sanft auf ihre Schultern legten. Ihre Mutter Poales war lautlos an sie herangetreten. »Anders geht es nicht, wenn man zur Quelle will. Das ist immer schwerer, als der Strömung zu folgen. Aber dafür lernt man auch mehr dabei.«

Sie drehte ihre Töchter zu sich um und sah erst Cypera in die blaugrauen Augen, danach Mibora in die grünen. »Und das werden wir. Wir gehen den Dingen auf den Grund. Wir folgen dem Volk der Ameisen und dem Fluss. Und mit Glück, Mut und Verstand finden wir gemeinsam eine bessere Zukunft für uns. Aber dazu …«, Sie hakte sich bei den Mädchen unter und zog sie fort vom Fluss, »…brauchen wir ausreichend Schlaf.«

Die Schwestern warfen sich einen verstohlenen Blick zu – hatte Ihre Mutter etwas von ihrem Gespräch belauscht? Falls ja, ließ sie es sich zumindest nicht anmerken. Gedankenversunken folgten sie ihr zurück zum Lager, in die Mitte ihrer Gemeinschaft, die ihnen Wärme und Schutz vor der Nacht bot.


Ende der Leseprobe.

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