Band 1: Graswelt – Leseprobe

Prolog

Wie ein Meer aus Grün wogte die üppige Pflanzendecke und schlug im Wind sanfte Wellen. Das Gras erstreckte sich in alle Himmelsrichtungen, so weit die Blicke reichten.

Wasser gab es hier im Überfluss. Die Menschen hatten vor langer Zeit Stichgräben gezogen, um das Land trocken zu legen und urbar zu machen. Silbernen Schnüren gleich zogen sich Fleete durch die Tiefebene. An ihren Stichkanten hatte sich das selten gewordene Quellgras seinen Lebensraum zurückerobert.

Zum Schutz gegen Hochwasser war ein Deich angelegt worden. Sollte der Fluss, der in Kurven durch das Gras schnitt, über die Ufer treten, würde sich ihm nur dieser künstliche Wall in den Weg stellen. So flach war das Land. Hier gab es weder Berge noch Hügel. Nichts versperrte den Blick, der frei bis zum Horizont wandern konnte.

Den überwiegenden Teil der Pflanzen stellten die Süßgräser. Straußgras, Trespe und Rot-Schwingel bildeten lockere Wuchsgesellschaften, unterbrochen von größeren Arten wie Fuchsschwanz und Lieschgras. Nah am Boden wuchsen Zwerge wie das Einjährige Rispengras.

Im Frühling begann das Grasland zu blühen: Sauerampfer, Saat- und Klatschmohn tupften es rot, Schafgarbe und Giersch weiß, Hahnenfuß und Scharbockskraut gelb, vereinzelte Kornblumen blau. Bis in den Spätsommer war die grüne Weite mit Farben überflutet, bevor sie vergingen und der Erinnerung Platz machten.

Im Herz des Ganzen lag die Große Ebene. Sie wurde im Nordosten durch den Fluss begrenzt, südwestlich durch den Deich. Westlich bildete ein Fleet eine künstliche Wasserscheide. Im Südosten gab es mehrere stark verkrautete Tümpel und daran angrenzend einen jungen Wald aus Buchen und Birken.

Über all dem lag eine Stille, die nur durch das Rauschen des Windes unterbrochen wurde. Nichts ließ darauf schließen, was sich hier, verborgen vor den Augen der Welt, abspielte.

Kapitel 1: Die Höhle der Erkenntnis

Mibora konnte nicht schlafen. Die ganze Nacht hatte sie wach gelegen. Obwohl sie noch ein Kind war, färbte sie ihr kinnlanges Haar bereits nach Art der Grasfrauen. Der Grassaft hatte es zu grünen Strähnen verklebt, die ihr nun störrisch vom Kopf abstanden.

Sie blinzelte ins Dämmerlicht. Kaum ein Dorfbewohner, der Mibora nicht um ihre Augen beneidete. Nur die Ältesten konnten sich daran erinnern, schon einmal zuvor solch grüne Augen gesehen zu haben. Grün wie das Gras.

Nun dämmerte endlich der Morgen durch die Ritzen der Großen Hütte. Hier, am Großen Platz im Zentrum des Dorfes, wohnte ihr Vater Calamus mit seiner Familie. Er war der Anführer der Grasleute: ein hochgewachsener Mann von vierundfünfzig Saaten, der sich oft in Gedanken verlor. Dabei war Calamus kein Asket, sondern kräftig gebaut, mit breiten Schultern und einem Bauchansatz, gegen den er mal mehr, mal weniger erfolgreich ankämpfte. Es steckte Stärke in ihm, das sah man an der Art, wie er sich bewegte. Den Kopf hatte er, wie alle Grasmänner, bis auf wenige Stoppeln kahl geschoren. Mibora war die jüngere seiner zwei Töchter, die er gemeinsam mit Poales, der Meisterin der Heilung, hatte.

Heute – endlich! – war der große Tag. Ihr großer Tag! Der Tag, auf den Mibora schon so lange gewartet hatte. An dem sich entscheiden würde, ob sie bei den Gröön Scheem, den Grünen Schatten, aufgenommen werden würde. Der Tag der Lese. Nun konnte sie beweisen, dass sie kein Erstling mehr war. Dass sie dazu gehörte. Obwohl sie klein war für ihr Alter, war sie drahtig, wie ein einziger schlanker, gespannter Muskel. Nichts an ihr war weich, nichts rund.

»So still?«, fragte ihre Mutter beim Frühstück. Poales war eine schlanke Frau, stolz und von wilder, unangepasster Schönheit. Sie hatte ihr Haar zu einem langen Zopf geflochten, der anmutig auf ihrer rechten Schulter lag. Ihre Bewegungen waren auch mit sechsundvierzig Saaten die einer Tänzerin. Sie hielt sich kerzengerade und wirkte durch ihr Auftreten viel größer, als sie war. Wie Mibora machte sie nicht viel Worte. Das Reden überließen sie Calamus und Cypera. Mit den beiden teilte Poales ihre Augenfarbe: ein durchdringendes Blaugrau, wie die Kiesel im Fleet, wenn das Wasser im Frühling besonders klar war und von den ersten Sonnenstrahlen des kommenden Sommers beschienen wurde.

»Iff weiff nifft, waff du meinfft«, nuschelte Mibora, die ihr Essen herunterschlang, um möglichst schnell die Hütte verlassen und die Grünen Schatten treffen zu können. Ihre große Schwester Cypera wusste, was los war. Sie blinzelte Mibora verschwörerisch zu. Wenn es darauf ankam, konnte sich Mibora auf ihre Schwester verlassen. Sie würde ihr Geheimnis nicht verraten.

Manche im Dorf schätzten Cypera falsch ein: Sie war mit ihren dreizehn Saaten schon jetzt eine Schönheit, aber anders als ihre Mutter von klassischer Anmut. Zusammen mit ihrer Flatterhaftigkeit, die an einen Schmetterling erinnerte, ihrer Liebe für Geschichten und Traumreisen ließ dies viele Grasmenschen verkennen, wie ernsthaft, ehrgeizig und klug sie war. Obwohl nur drei Saaten älter als Mibora, überragte sie ihre kleine Schwester um mehr als einen Kopf. Sie würde einmal groß werden, größer als ihre Mutter, mit der sie bereits gleichzog.

»Fertig!«, rief Mibora, kippte dabei ungestüm ihren Becher um, fing ihn aber so geschickt und blitzschnell auf, dass kaum etwas auf dem Boden der Hütte landete. Sie knallte ihn schwungvoll auf den Tisch und stürmte nach draußen.

»Warte, ich komme mit!«, rief Cypera, nahm einen letzten Bissen und folgte ihr mit den leichtfüßigen, tänzerischen Sprüngen, die so typisch für sie waren.

»Ich weiß gar nicht, was mit den Mädels los ist«, murmelte Poales lächelnd, zwinkerte Calamus zu und schenkte ihnen beiden nach.


Mibora und Cypera rannten um die Wette, tickten einander ab und kicherten gemeinsam, wie es nur Schwestern können. Warum kann es nicht öfter so zwischen uns sein?, dachte Mibora. Viel zu häufig war ihre Beziehung zu Cypera von Spannungen belastet, die keine der beiden ansprach.

»Warte, Cyp.«

»Was ist?« Cypera war stehen geblieben.

»Wenn …«, setzte Mibora an.

»Wenn was?« Mibora seufzte. »Die Grünen Schatten … ich weiß praktisch nichts über sie. Nur, dass du und Mama dazu gehören …«

Cypera sah sie mit schwer zu deutendem Blick an. »Ich bin seit zwei Jahren bei den Scheem. Ich bin das jüngste Mitglied, das sie je aufgenommen haben. Mit elf Saaten habe ich die Lese bestanden.« Sie musterte Mibora. »Wir werden sehen, ob du heute meinen Rekord brichst.«

Da waren sie, die Spannungen. Als Töchter des Anführers und der Meisterin der Heilung lastete ein großer Erwartungsdruck auf den beiden Schwestern. Das ganze Dorf schaute auf sie, oft genug wurde hinter ihrem Rücken getuschelt. Nach wem kamen sie, Vater oder Mutter? Hatten sie ihre Fähigkeiten geerbt, würden sie deren Platz einnehmen? Die Konkurrenz war ihnen in die Wiege gelegt. Sie mussten einen Weg finden, damit umzugehen und sich nicht entzweien zu lassen. Manchmal wusste Mibora nicht, ob ihnen das auf Dauer gelingen würde.

»Das meinte ich nicht. Du und Mama … ihr wäret keine Schatten geworden, wenn sie Böses im Schilde führten, oder?«

Cypera sah sie erst fassungslos, dann wütend an: »Ist das dein Ernst? Natürlich nicht! Die Schwesternschaft der Schatten bewahrt das geheime Wissen um unsere Fähigkeiten. Sie setzt es einzig zum Schutz und Wohle unserer Gemeinschaft ein. Was denkst du nur von uns?«

Plötzlich hielt Mibora ihren Bauch: »Ich habe irgendwie Magenschmerzen … ich glaube, das Essen war schlecht …«

Cypera musterte sie eingehend, bevor sie zu einem Urteil kam: »Am Essen liegt es nicht. Du hast Schiss!«

»So ein Quatsch, Cyp, ich und Schiss! Hast du vergessen, wie wir damals über das Fleet gerudert sind? Wer hatte da wohl Schiss?« Mibora bekam vor Ärger einen roten Kopf. Ihre Haut, die sie mit Grassaft grün gefärbt hatte, nahm einen dunklen Olivton an.

»Beruhig dich, Kleines, ich habe das nicht so gemeint … wir alle haben am Tag der Lese Schiss. Vier von fünf Anwärterinnen schaffen es nicht …«

Aber das regte Mibora, die zu gelegentlichen Wutanfällen neigte, nur noch mehr auf. »Kleines? Kleines?!? Ich bin nur drei Saaten jünger als du! Spiel dich nicht so auf!« Warum?, dachte sie aufgebracht. Warum muss sie sich immer größer machen, indem sie mich kleiner macht?

Da ertönte Gelächter hinter den beiden. Sie drehten sich um und sahen Carex, die Anführerin und Hüterin der Grünen Schatten. Hinter ihr standen neun Frauen, der Rest der geheimen Schwesternschaft. Sie trugen Kleidung aus Grasfasern und geflochtene Gürtel, die mit Beuteln und den Scheiden ihrer Messer behangen waren. Haut und Haare hatten sie grün gefärbt. Ihr Alter war unterschiedlich – die jüngsten zählten zwanzig, die ältesten unter ihnen mehr als sechzig Saaten. Sie alle strahlten eine ruhige, selbstbewusste Stärke aus, die jederzeit entfesselt werden konnte.

Mibora machte Acorus, die Meisterin des Grases und Avenella, die Meisterin des Kampfes, unter ihnen aus. Aber ein Grüner Schatten fehlte offensichtlich: Poales, ihre Mutter. Also hat sie tatsächlich nichts davon gewusst, das heute der Tag der Lese – mein Tag der Lese – stattfindet, dachte Mibora. Oder ist es Müttern untersagt, dabei zu sein, wenn ihre Kinder die Prüfung ablegen? Sie hatte Cypera nie danach gefragt, ob Poales an ihrer Lese teilgenommen hatte.

Carex unterbrach ihren Gedankengang. »Du hast also keine Angst? Dann kann ja nichts schiefgehen! Los, kommt mit!« Die Hüterin der Schatten ging entschlossenen Schrittes voraus, vom Scheitel bis zur Sohle die geborene Anführerin. Sie war eine ausgesprochen kleine Frau, kaum größer als Mibora, leicht untersetzt und hatte sicher schon ihre fünfzigste Saat überschritten. Sie trug ihr Haar kurz. Was Carex an Körpergröße fehlte, machte sie durch Charisma wett: Sie konnte mit einem Blick ihrer stahlblauen Augen andere zum Schweigen, Reden, Weinen oder Lachen bringen. Dieses Talent, die Wirkung auf ihre Mitmenschen, konnte man nicht lernen. Es wurde einem in die Wiege gelegt.

Staunend betrachtete Mibora die zwei geflochtenen Gurte mit Beuteln, die Carex gekreuzt über der Brust trug. Was mochte darin sein? Alle anderen Schatten trugen nur einen einfachen Gürtel, die Zahl ihrer Beutel unterschied sich von Frau zu Frau und war am größten bei den Meisterinnen. Aber so viele Beutel, dass ein Gürtel nicht für sie ausreichte, trug nur Carex. Seltsam … das werde ich alles begreifen, wenn ich ein Grüner Schatten geworden bin. Nur muss ich erst die Prüfung bestehen!

Mibora und Cypera eilten Carex hinterher, gefolgt vom Rest der Gruppe. Mit jedem Schritt wuchs Miboras Aufregung. Sie konnte es nicht erwarten, endlich am Ort der Lese einzutreffen und die Prüfung hinter sich zu bringen, komme, was da wolle. Geduld gehörte nicht zu Miboras Stärken, Warten nicht zu ihren Lieblingsbeschäftigungen. Da der Ort der Lese jedes Jahr wechselte, wusste sie nicht, wie weit es noch war. Sie zitterte vor Nervosität.


Da lag sie, verborgen hinter üppigem Wuchs: die Höhle, in der sich alles für Mibora entscheiden sollte. Der Eingang war rund, dahinter nur Schwärze, ein Ende nicht zu erkennen.

»Jetzt werden wir sehen, ob ein Grüner Schatten in dir steckt …«, meinte Carex lauernd. Die Mitglieder der Schwesternschaft hatten sich in einer Zweierreihe an der Höhle aufgebaut und bildeten so ein Spalier, das direkt in deren Eingang mündete.

»Was muss ich tun?«, fragte Mibora und versuchte, das Zittern in ihrer Stimme durch Entschlossenheit zu überspielen. Ihrer großen Schwester war das nicht entgangen. Sie stand am Anfang der Reihe und beobachtete sie genau. Ihr Blick war nicht zu deuten, aber sie wirkte genauso angespannt wie Mibora selbst.

»Du steigst in die Höhle der Erkenntnis hinab. Du harrst dort einhundert Herzschläge lang aus. Nicht einen weniger! Ganz egal, was dort passiert. Wenn dir das gelingt, dann kehrst du als Gröön Scheem, als Grüner Schatten, zu uns zurück.«

»U-und wenn nicht …?«, stotterte Mibora, »w-was ist, wenn ich versage?«

»Dann verbringst du den Rest deines Lebens in der Gewissheit, dass du nicht genug Mut gehabt hast, um ein Schatten zu werden. Aber keine Sorge. Das ist das Schicksal der meisten Frauen im Dorf.« Carex drehte sich lächelnd zu den anderen um. »Genug geredet! Schwestern, sobald die Anwärterin die Höhle der Erkenntnis betritt, zählt ihr laut und deutlich die Herzschläge an!«

Nun gab es kein Zurück mehr. Mibora atmete tief durch. Was habe ich mir nur dabei gedacht? Sie versuchte, sich zu sammeln und ihre Angst an einem Ort weit hinten in ihrem Bewusstsein zu verankern. Das hatte ihr Poales gezeigt. Als Meisterin der Heilung wusste ihre Mutter solche Dinge. Und sie wusste, dass ihre Töchter sie eines Tages brauchen würden. Das Leben im Grasland war stürmisch und wechselhaft. Da war es gut zu wissen, wie man seine Angst kontrollieren konnte, ohne sie zu vergessen und unvorsichtig zu werden.

Das Mädchen machte seinen ersten Schritt hinein in den Gang, den die Grünen Schatten bildeten. Die Frauen begannen leise zu flüstern. Es klang wie der Wind, der durch das Gras der Großen Ebene strich. Während Mibora dem Eingang der Höhle näherkam, wurde es langsam lauter. Nun klang das Flüstern wie Regen, der auf Blätter fällt. Einzelne Worte vermochte Mibora nicht auszumachen. Vielmehr waren es Geräusche, die fließend und flüsternd ineinander übergingen.

Immer lauter wurden die Grünen Schatten, bis sie plötzlich verstummten – genau in jenem Moment, in dem Mibora das Ende ihrer Reihen und den Eingang der Höhle erreicht hatte. Es schien, als hielten die Grünen Schatten, das Gras, als hielte die ganze Welt den Atem an.

Mibora betrat die Finsternis.


Ende der Leseprobe.

Seid dabei, wenn es weiter geht:

Ja, ich möchte Neuigkeiten aus der Graswelt erhalten.

 
Übermittle Daten …
Dein Name
E-Mail

Nach der Anmeldung bekommst Du von uns eine E-Mail, in der Du Dein Abonnement bestätigen musst. Bitte klicke dort auf den Link.